Vor mehreren Jahren fanden sich einige Eltern zusammen, die der Bahá‘í-Religion angehören und begeistert waren von der Vorstellung, neue Wege mit Kindern zu gehen. Das Ziel, einen Kindergarten zu gründen, formte sich heraus. Die Bahá’í- Lehren sollten dabei die Grundlage bilden. Gleichzeitig suchten wir nach reformpädagogischen Ansätzen, die mit diesen Grundlagen übereinstimmten. Wir stießen auf die Pädagogik Maria Montessoris und auf ein Schulprojekt in Ecuador, das aufbauend auf Montessoris Pädagogik eine ganz neue Sichtweise auf das Kind zulässt. Dieses Projekt des Ehepaars Wild beeindruckte uns besonders. Es zeigte uns, dass eine Einheit besteht zwischen heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Entwicklung des Menschen und den Bahá’í-Lehren, die uns durch religiöse Offenbarung zugänglich wurden. Konkret äußert sich diese Übereinstimmung u.a. in folgenden Haltungen und Handlungen:
- Liebe und Respekt gegenüber der Schöpfung und der Menschheitsfamilie
- Jedem Kind und jedem Mensch seinen eigenen inneren Bauplan und seine eigene Wahrheitssuche zugestehen
- Das Vorbild des Erwachsenen als größtes erzieherisches Potential ansehen
- Ablehnung jeglicher Gewalt, sei es körperlicher oder psychischer Art
- Die Vielfältigkeit der Menschen als Bereicherung erfahren können
- Erkenntnis der gegenseitigen Abhängigkeit solch scheinbarer Gegensätze wie Freiheit und Ordnung (geistig, sozial und materiell) oder individuelle Entfaltung und Dienst an der Gemeinschaft.
Durch unsere konkreten Erfahrungen in der Arbeit mit den Kindern und ihren Familien erweiterten sich unsere Fragestellungen in den vergangenen Jahren. Besonders die sich entwickelnden Handlungsmuster der Kinder als Reaktion auf bestimmte Beziehungserfahrungen interessierten uns. So lernten wir die Arbeit und die Erfahrungen von Jesper Juul kennen. Jesper Juul ist Däne und Begründer des Kempler- Institut of Scandinavia und familylab international.
Seine familientherapeutische Arbeit steht unter dem Leitsatz der Gleichwürdigkeit aller Menschen. Seine Arbeit ist von tiefer Menschlichkeit geprägt. Besonders sein Buch “Dein kompetentes Kind“ hat uns nachhaltig beeinflusst.
Für uns stand als erstes die Auseinandersetzung mit dem Menschenbild an, das sich aus den Bahá’í- Schriften ergibt. Wir spürten, dass uns dieser Blickwinkel auf den Menschen als letztlich geistiges Wesen eine Richtung zeigte, in die „die Reise“ visionär gehen würde.
Gleichzeitig war uns bewusst, dass eine große Diskrepanz bestand und besteht zwischen unserem durch Lebenserfahrungen geprägten persönlichen Menschenbild und dem eines Ideals.
Jedoch ermöglichte uns die intensive und von Begeisterung getragene Diskussion ein für uns neues Verständnis, das uns half, von Anfang an neue Erkenntnisse in der Gestaltung der Räumlichkeiten des Kindergartens umzusetzen, als auch innere Verständnisstrukturen zu entwickeln, die einen entspannten Umgang mit den Kindern zuließen. Gleichzeitig fanden wir gemeinsame Werte, die das Arbeiten im Team erst möglich machten. Auch heute fordern uns die Bahá’í- Schriften immer wieder erneut auf, unseren pädagogischen Alltag zu überdenken und neue Verständnisstrukturen zu entwickeln.
Einladung zum Dialog
Ganz pragmatisch gesehen, brauchen wir heute Kindergärten, weil sich das natürliche Lebensumfeld von Familien sehr stark verändert hat. Die Lebensbereiche der Menschen haben sich verschoben und nur wenige Eltern arbeiten noch zuhause in einer Gemeinschaft, in der es andere Kinder und Erwachsene gibt, in der Kinder sich organisch in die Erwachsenenwelt hinein entwickeln könnten. Nicht umsonst heißt es in einem afrikanischen Sprichwort, dass es „eines ganzen Dorfes bedarf, um ein Kind zu erziehen“. Heute ersetzen oft der Kindergarten oder andere Institutionen die Funktion des „Dorfes.“
So wie die gesellschaftlichen Strukturen sich stark verändert haben, befindet sich unsere Gesellschaft auch in einem starken Werteumbruch, in der jeder aufgefordert wird für seine eigenen Werte und Lebensvorstellungen Verantwortung zu übernehmen.
Wir erleben, dass viele Familien verunsichert sind und sich im Spannungsfeld zwischen Traditionen und der Suche nach neuen Formen des miteinander Lebens befinden.
In diesem Sinne verstehen wir unseren Kindergarten nicht als Einrichtung für Kinder, sondern für Familien. Bei uns gehen die Familien „in den Kindergarten“. Wir möchten Familien stärken ihrem Gefühl zu folgen, dass es sich lohnt, eine neue Form von Gleichwürdigkeit und Verantwortlichkeit in ihren Familien zu leben. Wir, als Betreiber des Kindergartens, spüren jeden Tag, wie sehr Kinder uns dabei helfen Kompetenzen zu erwerben und uns selbst zu entwickeln. Dafür möchten wir den Kindern danken. Diese Erfahrungen geben wir den Eltern durch intensive Elternarbeit zurück.
Gleichzeitig ist es unserer innerer Auftrag, den Kindern eine Umgebung zu ermöglichen, in der echte Lebensprozesse möglich sind, wo sie sich so frei wie möglich entfalten können und in entspannter Atmosphäre ihre vielfältigen Erfahrungen mit anderen Kindern und Erwachsenen machen können. So wichtig Bildung heute erscheint, ist es unsere Erfahrung, dass der emotionale Schutz und das Gefühl, angenommen zu sein, die wichtigste Voraussetzung für nachhaltige Bildungsprozesse sind. Daher legen wir oberste Priorität auf diesen Bereich. Das Lebensgefühl, das Kinder im Kindergartenalter entwickeln, ist prägend für ihr gesamtes Leben. Dieser Verantwortung möchten wir immer mehr gerecht werden.
Webseite: http://www.kindergartenwilde9.de